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AUF BIEGEN UND BRECHEN

von Dina von Boch - 11 Jul, 2018

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Michael Thonet hat im 19. Jahrhundert das Bugholzmöbel erfunden – seine Ururenkel feilen weiter an der 
innovativen Sitzkultur

Die Reise zu Thonet führt in die Provinz: nach Frankenberg in Hessen. Rein geografisch so etwas wie das Zentrum Deutschlands. Hier entstehen also die Klassiker des Möbeldesigns. Ein beschaulicher Ort, unspektakulär und sicher weniger romantisch als Boppard am Rhein, wo vor fast 200 Jahren Michael Thonet das Familienunternehmen gründete. Viele Marken würden gern auf eine so lange 
Firmengeschichte verweisen. Schon weil die Vergangenheit ein reicher Steinbruch für das Marketing ist. Letztlich überwiegt aber doch die Herausforderung: Wird die sechste 
Generation dem großen Erbe gerecht werden können? Das müssen heute drei Brüder beweisen: Claus, Peter und Philipp; ihr Ururgroßvater gründete 1819 eine Bau- und Möbeltischlerei – und erfand später das Bugholzmöbel. Eine fast endlose Erfolgsgeschichte. Es passt, dass der Besucher auf dem Weg zur Fabrik zuerst den Eingang zum Werksmuseum passiert. Es zeigt: Seit 1889 wird hier 
produziert.
 

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Was die Gebäuden angeht, so trifft man auf die fünfziger Jahre. Schlichte Häuser und Hallen – schnell errichtet auf dem Schutt, den die Bombenangriffe der Alliierten im Zweiten Weltkrieg von einer weltbekannten Marke übrig ließen. Industrielle Bauten, die noch ganz von der scheinbaren Unschuld des Wirtschaftswunders erzählen. Dabei lag der Zenit von Thonet viel früher. „Um 1900 beschäftigt 
Thonet in sieben Fabriken rund 6.000 Mitarbeiter. Die 
Jahresproduktion liegt bei etwa einer Million Möbel, der 
Stuhl Nr. 14 macht rund ein Viertel aus.“ Die trockene Sprache im Pressetext transportiert die vergangene Größe viel besser als jedes Pathos. Thonet, das bedeutet klassische Möbelmoderne und frühe Massenproduktion, vollkommen neue und intelligente Produkte; die Abkehr vom aufwändigen Schreinerhandwerk – und trotzdem viele Handgriffe, die bei aktuellen Löhnen mittlerweile eher zu hochpreisigen Produkten „Made in Germany“ führen – schließlich entstehen die echten „Thonets“ heute in einer globalisierten 
Welt. In der die Masse Waren aus Asien kauft. Aus den 6.000 Mitarbeitern sind 210 geworden. Erstaunlich, aber sie 
schaffen es mit Bravour, ein schillerndes Image aufrechtzu­erhalten – die Hände in den Zulieferbetrieben einmal nicht 
mitgezählt. Mehr als zwei Hände – sie braucht man immer noch, 
um jene Sitzmöbel herzustellen, mit denen der Erfinder sogar den Fürsten von Metternich betörte. Er stammte wie der Schreiner Michael Thonet (1796–1871) aus dem Rheinland – vielleicht hat diese Verwandtschaft zur gegenseitigen Sympathie beigetragen. Metternich, in österreichischen Diensten, holte Thonet in der Mitte des 
19. Jahrhunderts nach Wien, weil er von seinen Techniken überzeugt war. Statt dem Holz mit Sägen, Messern und 
Feilen Gestalt zu geben, bog der Bopparder Holzstäbe einfach in die später gewünschte Form. Das sparte viel Zeit und erzeugte eine ungekannte Eleganz und Leichtigkeit. 
Auf den Welt­ausstellungen seiner Zeit feierte man den kühnen kinetischen Umgang mit dem vertrauten Werkstoff, der auch ganz neue statische Lösungen zuließ. 1859 kam dann der „Sessel Nr. 14“ heraus – in Wien, wo sich 
Familie Thonet inzwischen erfolgreich niedergelassen hatte. Wer konnte ahnen, dass dieses Modell als „Wiener Kaffeehausstuhl“ 1930 bereits über 50 millionenfach produziert sein sollte?
 

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Exponate aus dem Werksmuseum von „Thonet“. Die ersten Bugholzmöbel wurden noch aus verleimtem Schichtholz gefertigt – so wie der Stuhl „Nr. 4“ (links). Auch der Kinderstuhl „Nr. 3“ verfügt bereits über eine Sitz- und Rückenlehne aus Rattangeflecht. Der historische „Schreibtischfauteuil B 9“ wird inzwischen aus massivem Buchenstäben gebogen und ist unter der Serienummer „209“ fester Bestandteil im aktuellen Katalog des international erfolgreichen Familienunternehmens.
 

Damit galt der „14-er“ als eines der ersten Erfolgsmodelle des sogenannten Designs, lange bevor der Begriff überhaupt verbreitet war. Jeder kennt diese Form – so wie beim Käfer von Volkswagen. Jeder glaubt, eine persönliche Beziehung zu dem Objekt aus Buchenholz zu besitzen. Und deshalb will auch jeder in Frankenberg sehen, wie man dort heute noch von heißem Dampf geschwängerte Buchenstäbe in die gewünschte Form bringt. Typisch für eine alte Marke. Die High-Tech-Entwicklungen werden zur Kenntnis genommen, aber den größten Sexappeal hat die Tradition. Und die stand in der Mitte des 19. Jahrhunderts für einen Quantensprung der industriellen Möbelfertigung. In diesem Sinne ist die Bugholzfertigung das Fundament von Thonet geblieben. Sie präsentiert sich in Frankenberg immer noch in einem frühindustriellen Ambiente. Natürlich, die Dampfkessel sind moderner geworden, in denen die runden Massivholzstäbe bei exakt 106 Grad Celsius weich gemacht werden. Was dann folgt, erinnert irgendwie an ein Gemälde von Adolph Menzel. Echte Menschen greifen sich das Werkstück und mit vereinter Kraft wird es in die eiserne Form gebracht. Drei Männer braucht es schon, um jenen genialen Einfall auszuführen, Beine und Rückenlehne eines Stuhls aus einem Holzstück herzustellen. Meist wird das homogene Buchenholz verwendet; wenige Monate, nachdem es zum Teil in den Wäldern rund um den Firmensitz geschlagen wurde. Auch Esche und Eiche können verarbeitet werden, aber die machen nur etwa fünf Prozent beim Bugholz von Thonet aus.
 

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Kolonialer Solitär aus Palisander mit handbesticktem Bezug. Gut gepolstert ist dieser koloniale Sessel aus dem besonders harten und wertvollen Palisanderholz.
 

„Die Struktur des Holzes muss immer der Form folgen“, erklärt Stefan Wocadlo von Thonet, der schon einige Gäste durch das Werk führte. Er hat selbst einmal Schreiner gelernt und kennt sich aus mit der Materie. Die ersten „Thonet“-Möbel bestanden noch aus verleimtem Schichtholz; mit dem „14er“ – heute als „214“ im Programm – wechselte man zu massiven Stäben, die noch robuster im Gebrauch sind. Michael Thonet war inzwischen nach Wien umgezogen und hatte sich dort 1849 erneut selbständig gemacht; vier Jahre später übertrug er das Unternehmen auf seine fünf Söhne, die Geburt der Marke „Gebrüder Thonet“ ...
 

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Zusammenfassung aus der "Living 04/2007" - Sie möchten die ganze Zeitschrift lesen? Kontaktieren Sie uns gerne >>HIER!

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